Das Judentum in Deutschland Gesprächsvisualisierungen
Das Judentum ist vielseitig, genauso wie die Menschen, die sich als jüdisch verstehen. Was bedeutet Judentum und Jüdischsein für sie: Wie leben sie ihr Jüdischsein ?

Das Judentum weltweit im Vergleich

Zu Beginn des Jahres 2020 schätzte der World Jewish Population Report ca. 15 Mio. jüdische Menschen, die sich überwiegend auf zwei Länder aufteilen: Israel mit 46 % und die USA mit 39 %. Weitere 9 % lebten in Europa (1). Die Zahlen beziehen sich auf die »Core Jewish Population«, also jene Jüd*innen, die ihr Jüdischsein als Hauptmerkmal ihrer Identität nennen, und inkludiert sowohl gläubige sowie nicht-religiöse Menschen. (2).

(1) DellaPergola, Sergio (2020): “World Jewish Population, 2020,” in Arnold Dashefsky and Ira M. Sheskin. (Editors) The American Jewish Year Book, 2020, Volume 120 (2020), S. 273-370, URL: https://www.jewishdatabank.
org/api/download/? studyId=1149&mediaId=
bjdb%5c2020_World_Jewish_Po pulation_(AJYB_DellaPergola)
_FinalDataBank.pdf. Zuletzt aufgerufen am 18.09.2023, S. 7

(2) DellaPergola (2020), S. 13.

Das Judentum in Deutschland

1990 lebten in Deutschland nur 30.000 Juden*Jüdinnen, im Jahr 2020 ungefähr 200.000.
Der immense Anstieg dieser Zahl erklärt sich dadurch, dass besonders in den 1990ern bis 2004 etwa 220.000 Juden*Jüdinnen aus der ehemaligen Sowjetunion (3 ) als Kontingentflüchtlinge (4) nach Deutschland kamen.

Jüdische Gemeinden in Deutschland

Von den nun 200.000 Juden*Jüdinnen sind nur circa die Hälfte in einer jüdischen Gemeinde aktiv, davon gibt es 132 (eine verbandsfreie Gemeinde, 27 zugehörig zur Union progressiver Juden und 104 zum Zentralrat der Juden, es gibt hier orthodoxe, liberale, konservative und rekonstruktivistische Ausrichtungen. Nun bestehen die Gemeinden zu 90 % aus russischsprachigen Mitgliedern, die selbst Kontingentflüchtlinge waren oder Nachfahren dieser sind. (5) 48 % dieser Gemeindemitglieder sind älter als 60 Jahre. Die meisten Mitglieder eine jüdischen Gemeinde sind in NRW mit 26.300 Mitgliedern, danach folgen Bayern mit 18.00 Mitgliedern, Hessen (11.000) und Berlin (9.300). (6) Insgesamt gibt es 71 aktive Rabbiner*innen, acht davon sind Frauen, und 16 jüdische Schulen in ganz Deutschland. (7)

(3) vgl. bpb 2021,S. 12-13 Bundeszentrale für politische Bildung/ bpb (Hrsg.) (2021): bpb magazin #20. Jüdisches Leben in Deutschland, Lahr: Ernst Kaufmann GmbH & Co. KG 2021, URL: https:// www.bpb.de /shop/zeitschriften/ bpbmagazin/342389/juedisches- leben-2021/, [Zuletzt aufgerufen am 22.12.2022 um 09:27].

(4) »In Deutschland gilt ein Flüchtling als Kontingentflüchtling, wenn er im Rahmen einer humanitären Hilfsaktion, aufgrund von Stichvermerken (Visa) oder einer Übernahmeerklärung aufgenommen wurde.« Kleiner, Piritta (2010): Jüdisch, Jung und Jetzt. Identitäten und Lebens- welten junger Juden in München, Herbert Utz Verlag GmbH, S. 65

(5) vgl.bpb 2021, S. 12-13.

(6) Fischer, Ruth/ Harig, Jan/ Holler, Malte/ Zwilling, Caterina (Hrsg.) (2020): Mehrfachnennung möglich. Umfragen zu jugendlichen, pädagogischen und jüdischen Perspektiven auf Antisemitismus und Bildungsarbeit. Bildung in Widerspruch e.v, Berlin: Druckhaus Sportflieger 2020, URL: https://bildung-in-widerspruch. org/files/BiW_Mehrfachnennungen- moeglich.pdf, [Zuletzt aufgerufen am 27.12.2022 um 15:02], S. 53.

(7) vgl.bpb 2021, S. 12-13.

Das Judentum zwischen Kultur und Religion: Wer ist jüdisch?

Die Antworten nach Kriterien einer jüdischen Identität sind viele:

1. Etymologisch bestimmt das Wort »Jude« einen »Bewohner des Land Juda« und damit als Angehörigen des Stammes Juda, der einer der zwölf historischen Stämme Israels ist. Hier wird eine Art Volkszugehörigkeit impliziert.(8)

2. Per Definition wird eine Person laut der Halacha, dem jüdischen Religionsgesetz, als jüdisch bezeichnet, wenn die Mutter jüdischer Abstammung ist oder man zum Judentum konvertiert ist (vor einem Rabbinatsgericht zum Judentum übergetreten). (9) Die Religion oder Abstammung des Vater spielt hier zunächst keine Rolle. ( Es gibt eine anhaltende Debatte in Deutschland zu diesem Thema der sogenannten »Vaterjuden«, die in den Deutschen Gemeinden nicht anerkannt werden. Um das inhärente Problem der Ablehnung einer patrilinearen Abstammung in den jüdischen Gemeinden in Deutschland zu verstehen, muss man sich die Mitgliederzahlen anschauen.) Dies hat zur Folge, dass in Deutschland der Eindruck erweckt wird, dass Jüdischsein gleichzusetzen ist mit dem Christlichsein und damit häufig mit einer Religionszugehörigkeit verwechselt wird. (10)

3. Während die jüdische Religionswissenschaftlerin Mira Zussman die jüdische Identität neben Religiosität und gemeinsamer Herkunft um »die Orientierung auf das gemeinsame Land Israel sowie die Identifizierung mit der besonderen Geschichte des jüdischen Volkes« (11) erweitert und gängige Modelle verschiedener Umfragen zwar die Komplexität des »Jüdischen« wahrnehmen, vereinen sie noch immer in Kategorisierung eine Kombination an ethnischen, kulturellen, politischen und religiösen Faktoren. Dies hat jedoch zur Folge, dass gleichermaßen der Besuch der Synagoge, das Einhalten religiöser Feiertage und das Lesen heiliger Texte mit der Identifikation mit Israel und der Erinnerung an die Shoah gleichgesetzt werden. Mit dieser veralteten Gewichtung, die unter anderem soziale Umfelder außer Acht lässt, scheinen diese Kategorien zunehmend veraltet und zu eng gefasst. (12)

(8) vgl.Kleiner 2010S. 32.

(9) Biller, Maxim (2021) : Partisanenlieder, in: ZEIT ONLINE, vom 11.08.2021, URL: https://www.zeit.de/2021/33/ max-czollek-judentum-linke-kommu- nismus-intellektueller-juedischsein, (shorturl.at/apEI3 ), [Zuletzt aufgerufen am 28.10.2022 um 13:05].

(10) vgl.Kleiner 2010 S. 32.

(11) Kleiner 2010 S. 32.

(12) Silberstein, Laurence J. (2008) : Minority Voices and The Ethics of Jewish Identity. Critical Reflections, in: Hödl, Klaus (Hrsg.): Kulturelle Grenzräume im jüdischen Kontext, Innsbruck: Studienverlag, S. 151- 174, S. S. 153f.

Verschiedene Ausrichtungen des Judentums

Im Judentum unterscheidet man zwischen vier Hauptrichtungen: das orthodoxe, das konservative, das rekonstruktionistische und das Reformjudentum. (13)

Dem orthodoxen Judentum, »jene jüdische Richtung, die in Ablehnung der Aufklärung gegen Schulreformen, Emanzipation und Assimilation Stellung bezog und an der traditionellen Praxis und Lebensform festhielt, was regional eine bestimmte Differenzierung bedingte« (14)

steht das liberale und Reformjudentum gegenüber, das sich um die Emanzipation und Assimilierung bemüht. Beispielhaft für Emanzipierung zu nennen sind hier das Recht, Frauen zu Rabbinerinnen auszubilden, oder, dass eine Trennung von Männern und Frauen in der Synagoge aufgehoben wird. (15)

(13) vgl.Kleiner 2010 S. 32.

(14) Kleiner 2010 S. 32.

(15) vgl.Kleiner 2010 S. 32.

Deutsch-jüdischer Dialog im Festjahr 2021 – 1700
Jahre jüdisches Leben in Deutschland


Die Initiative 1700 Jahre jüdischen Leben in Deutschland untersuchte im Festjahr 2021 jüdisches Leben der Gegenwart und Vergangenheit und wie jüdische Mitmenschen das Land geprägt haben: (16) zum Beispiel mit jiddischen Begriffen, die mit dem Deutschen eng verwandt sind: Schlamassel, tacheles und zocken beispielsweise. (17)

Dabei im Fokus stand, besonders jüdisches Leben in seiner Diversität zu zeigen, ohne Stereotype zu reproduzieren und antisemitische Bildungsarbeit weiter zu leisten.

»Am 11. Dezember 321 erlässt der römische Kaiser Konstantin ein Edikt (Gesetz). Das Gesetz besagt, dass Juden städtische Ämter in den Kurien, den römischen Stadträten, bekleiden durften und sollten. Dieses Edikt belegt eindeutig, dass jüdische Gemeinden bereits seit der Spätantike wichtiger integrativer Bestandteil der europäischen Kultur sind. Eine frühmittelalterliche Handschrift dieses Dokuments befindet sich heute im Vatikan und ist Zeugnis der mehr als 1700 Jahre alten jüdischen Geschichte in Deutschland und Europa.« (18)

(16) vgl.Kleiner 2010 S. 32.

(17) vgl.bpb 2021, S. 18 f.

(18) 2021 – Jüdisches Leben in Deutschland (2022): Landing Page, URL: https://2021jlid.de, [Zuletzt aufgerufen am 21.12.2022 um 21:28].